Race to the Bottom

Wie die Gig-Economy die Medizin untergräbt

CR

Christoph Ruwwe-Glösenkamp

23. Juni 2025

Die Telemedizin in Deutschland wird massiv gefördert – von der Politik, der Ärzteschaft und den Kassen. Die Motivation scheint schlüssig: Wir wollen modern sein, den Komfort für Patienten erhöhen, unterversorgte Regionen stärken und Effizienzen schaffen. Die üblichen Worthülsen eben. Das ist kein deutscher Trend; weltweit arbeiten Gesundheitssysteme an der Stärkung der Telemedizin.

Die Corona-Pandemie war ein Katalysator. Fast jede Praxis bot plötzlich Videosprechstunden an. Es ist also nicht so, als hätten wir Ärzte die Technik nicht bereits genutzt oder die Möglichkeiten nicht erkannt. Dennoch verflog der Enthusiasmus für diese Technik bei den meisten Kollegen genauso schnell wie die Hospitalisierungsraten für Covid-19.

Die Gründe dafür sind vielschichtig: Mit der Rückkehr zum normalen Praxisbetrieb fehlte die Zeit. Die Vergütung war gering oder unklar geregelt. Der Leistungskatalog für Videosprechstunden blieb undurchsichtig. Doch das sind für mich nur nachrangige Probleme.

Der Kern meiner fehlenden Begeisterung ist die fundamentale Ineffizienz: Ich kann keine körperliche Untersuchung durchführen. Es gibt keine Vorbefunde, die durch mein Praxispersonal erhoben wurden. Es fehlt der unmittelbare, persönliche Eindruck eines Menschen. Wenn ich also die Wahl habe, einen Patienten in meiner Praxis zu sehen oder eine Videosprechstunde durchzuführen, wähle ich immer Ersteres. Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass der persönliche Arztkontakt dem Videogespräch medizinisch überlegen ist. Der Tag hat nur 24 Stunden, und mein Terminkalender ist voll – wie bei fast allen meinen Kollegen. Wie also sollen wir Ärzte zusätzlich Videosprechstunden anbieten?

Die Antwort ist die gleiche wie immer im Gesundheitswesen: über finanzielle Anreize. Und hier kommt die aktuell größte Plattform ins Spiel: Teleclinic.

Die Aufmachung ist professionell, die Software funktioniert. Rezepte und Krankschreibungen können direkt ausgestellt und auf der Versichertenkarte hinterlegt werden. Als Arzt kann ich Patienten in ganz Deutschland versorgen, wann und wo ich will – bequem vom Sofa aus. Die Kassen haben Direktverträge, die mein Praxisbudget nicht belasten. Ein "Brave new world" der Medizin.

Warum also haben die meisten Ärzte, die ich kenne, erhebliche Bedenken oder lehnen Anbieter wie Teleclinic rundheraus ab? Fortschrittsfeindlichkeit? Paternalismus?

Nein. Es gibt mindestens vier Aspekte, die diese Entwicklung hochproblematisch machen.

1. Die Entwertung der Krankschreibung

Ein erheblicher Teil der Anfragen auf Telemedizin-Plattformen zielt auf eine Krankschreibung ab. Per Video geht das fast reibungsfrei. Der Arzt kennt den Patienten nicht, kann keine validen Befunde erheben und hat kaum Motivation, den Wunsch zu hinterfragen. Die Interaktion dauert oft nur wenige Minuten: Symptome nennen, allgemeine Empfehlungen erhalten, Dauer der AU abfragen, fertig. Damit lässt sich als Arzt Geld verdienen – nicht durch die einzelne Konsultation, sondern durch die schiere Menge.

Genau das ist der "Race to the bottom": Ärzte werden zu Fließbandarbeitern. Klick, fertig, nächster Patient. Wer behauptet, das sei im Praxisalltag nicht anders, ignoriert die Essenz der Arzt-Patienten-Beziehung. Zu einem Arzt, der einen kennt, der die Krankengeschichte begleitet, besteht ein Vertrauensverhältnis. Wenn ein Patient dort zum zehnten Mal mit denselben unklaren Beschwerden eine Krankschreibung wünscht, wird das anders gehandhabt als in der völligen Anonymität der Teleclinic, wo jede Interaktion eine Erstkonsultation ohne Kontext ist.

2. Die Beschleunigung der sozialen Vereinsamung

Die Einsamkeit ist eine stille Pandemie. Wir wissen aus unzähligen Studien, dass sie krank macht: mehr Depressionen, mehr Suchterkrankungen, eine niedrigere Lebenserwartung. Das Problem ist so gravierend, dass bereits über die Begrenzung von Self-Checkout-Kassen in Supermärkten diskutiert wird, um ein Mindestmaß an menschlicher Interaktion zu erhalten.

Und im gleichen Atemzug propagieren wir eine entpersonalisierte Telemedizin? Der Arztbesuch ist für viele Menschen, gerade für ältere oder psychisch belastete, eine der letzten verbliebenen, komplexen und direkten menschlichen Interaktionen. Er ist oft der Ort, an dem eine soziale "Notbremse" gezogen werden kann, an dem Krisen, Vereinsamung und psychische Notsituationen überhaupt erst auffallen. Diesen Ankerpunkt leichtfertig abzuschaffen, ist fahrlässig.

3. Die ökonomische Falle: Das 10-Euro-Dilemma

Krankenkassen schließen mit Teleclinic Direktverträge. Das bedeutet, der Arzt erhält seine Vergütung garantiert – eine Seltenheit im budgetierten Kassensystem, wo Mehrarbeit oft nur zu einem Bruchteil bezahlt wird. Das klingt verlockend.

Der Haken: Die Vergütung pro Patientenkontakt liegt im Schnitt bei etwa 10 Euro.

Finden Sie das angemessen? Dann bitten Sie doch mal einen Handwerker, für 10 Euro bei Ihnen vorbeizukommen und sich Ihre poröse Wand anzuschauen. Oder lassen Sie sich für 10 Euro die Haare schneiden. Sie werden argumentieren, das Gespräch mit dem Patienten sei ja viel kürzer. Ja, das ist es. Und Sie können sicher sein: Die Interaktion, die Sie von mir für 10 Euro erhalten, wird den Wert von 10 Euro widerspiegeln. So viel Zeit werde ich in die Anamnese investieren, so tiefgründig werden meine diagnostischen Überlegungen sein, so umfassend meine Beratung.

Wer gewinnt? Die Krankenkassen und die Politik. Sie können auf sinkende Kosten und steigende "Arztkontakte" verweisen und sich als Modernisierer des kollabierenden Systems feiern. Wer verliert? Die Patienten, die eine oberflächliche Alibi-Medizin erhalten, und die Ärzte, deren Arbeit und Expertise systematisch entwertet wird.

4. Ärzte als Uber-Fahrer: Die Gig-Economy im Gesundheitswesen

Die Analogie ist hart, aber treffend: Telemedizin-Plattformen machen Ärzte zu den Uber-Fahrern des Gesundheitssystems.

Denken Sie das Modell von Uber durch: Ein Tech-Unternehmen stellt eine Plattform bereit, die Fahrer und Kunden für einfache Fahrten von A nach B zusammenbringt. Der Fahrer ist kein Angestellter, sondern ein unabhängiger Auftragnehmer – ein Gig-Worker. Er ist austauschbar. Der Preis wird vom Algorithmus diktiert. Es gibt keine langfristige Beziehung zum Kunden, keine Verantwortung über die einzelne Fahrt hinaus. Der Fokus liegt auf Volumen und Effizienz für simple, standardisierte Aufgaben.

Genau dieses Prinzip wird auf die Medizin übertragen:

  • Austauschbarkeit statt Beziehung: Der Patient wählt nicht seinen Arzt, sondern bucht irgendeinen verfügbaren Arzt für ein schnelles Anliegen (meist Erkältung, Magen-Darm, AU-Bescheinigung).
  • Plattform-Kontrolle statt ärztlicher Autonomie: Nicht der Arzt, sondern die Plattform kontrolliert den Patientenzugang, die Rahmenbedingungen und die Vergütung. Der Arzt wird zum Dienstleister für ein Tech-Unternehmen.
  • De-Professionalisierung: Eine hochkomplexe Tätigkeit, die auf Vertrauen, Erfahrung und einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen beruht, wird zu einer transaktionalen, stückbasierten Dienstleistung degradiert. Die "Kunst der Medizin" geht verloren.

Dieses Modell untergräbt das Fundament unseres Berufs. Es fördert eine "Medizin der einfachen Fälle" und überlässt die komplexen, schlecht vergüteten und anstrengenden Patienten der Regelversorgung. Es ist die konsequente Fortsetzung des "Race to the bottom" – nicht nur ökonomisch, sondern auch professionell.

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