Karte und Gebiet
eine Reise
Christoph Ruwwe-Glösenkamp
23. Februar 2025
"Luftnot. Vor allem beim Einatmen. So als ob nicht genug Luft in die Lunge gehen würde. Vor allem beim Sprechen. Nene, Joggen geht eigentlich gut."
So oder so ähnlich berichten Patienten häufig ihre Symptome, wenn sie an sogenannter dysfunktionaler Atmung leiden. Ein häufiges Problem, und sogar noch häufiger bei Menschen, die sowieso schon eine andere Lungenerkrankung haben. Bei der dysfunktionalen Atmung ist der Ablauf des Ein- oder Ausatmens gestört. So bewegt sich z.B. das Zwerchfell nicht zum gleichen Zeitpunkt wie die Brustkorbmuskulatur während der Einatmung. Das Zwerchfell muss für die gleiche Menge Luft zum Einatmen mehr Arbeit aufbringen, das wiederum wird vom Gehirn als Luftnot wahrgenommen.
Ich will aber dahingehend gar nicht so sehr ins Detail gehen, sondern dieses Krankheitsbild vielmehr als ein Beispiel für die manchmal stark auseinanderklaffenden Konzepte von Gesundheit und Krankheit bei Patienten und Ärzten nehmen. Wann immer ich versuche Patienten zu erklären, dass der Grund ihrer Luftnot wahrscheinlich ebenjene dysfunktionale Atmung ist, treffe ich auf einigen Widerstand. "Ich bilde mir das also alles nur ein?", "Sie meinen ich hab einen an der Meise?" sind einige Beispiele von dem, was ich daraufhin zu hören bekomme. Ich kann das auch verstehen, häufige Trigger für die dysfunktionale Atmung sind vermehrter Stress, Angsterkrankungen oder Depressionen. Kein Wunder, dass Patienten sich da "in die Psychoecke" abgeschoben fühlen.
Diese "Psychoecke" sieht aber auf der Karte der Patienten ganz anders aus als auf meiner Karte. Das Konzept der "Karte und Gebiet" besagt, dass viele Dinge zu komplex sind, um sie exakt abzubilden – sei es ein Gelände in der Natur oder ein Zustand wie Gesundheit. Jeder von uns hat seine eigene Karte, seine eigene vereinfachte Darstellung der Wirklichkeit. Als Pneumologe habe ich eine detaillierte Karte, die anatomische Abläufe, physiologische Prozesse und wissenschaftliche Studien umfasst. Meine Patienten hingegen arbeiten oft mit einer viel einfacheren Karte: "Ich habe Luftnot, also muss etwas mit meiner Lunge nicht stimmen." Und genau hier liegt die Herausforderung.
Vor einiger Zeit hatte ich eine mittelalte Patientin, bei der ich im Vorfeld dachte: "Wenn ich ihr das jetzt mit der dysfunktionalen Atmung erkläre, nimmt sie das nie und nimmer an." Doch während ich sprach, sah ich sie zustimmend nicken – sie war regelrecht begeistert. Auf meine Nachfrage, warum sie das so gut aufnimmt, erzählte sie mir, dass sie in der Vorwoche bei einem Schamanen war. Der hatte ihr gesagt, die Chakren in ihrem Hals seien gestört. "Das passt doch genau zu dem, was Sie sagen!", meinte sie. Chakren sind aus medizinischer Sicht vielleicht eine "falsche Karte", aber in ihrem Fall führte sie zum richtigen Ziel: Sie konnte meine Erklärung annehmen und war motiviert, an ihrer Atmung zu arbeiten.
Interessanterweise kann die einfachere Karte der Patienten manchmal sogar hilfreicher sein. Wenn jemand seine Luftnot auf Stress zurückführt und daraufhin Entspannungstechniken ausprobiert, könnte das schneller zur Besserung führen als eine lange medizinische Analyse meinerseits. Umgekehrt kann meine detaillierte Karte dazu dienen, den Patienten Sicherheit zu geben: "Nein, es ist kein Tumor, keine Infektion – wir können das mit gezielter Atmung und etwas Geduld in den Griff bekommen." Beide Wege können zum gleichen Ziel führen – nämlich wieder frei durchatmen zu können.
Um die dysfunktionale Atmung zu erklären, greife ich oft auf ein alltägliches Beispiel zurück: den Schluckakt. Wenn man sich nicht darauf konzentriert, läuft er wie von selbst, völlig unproblematisch. Aber wenn man willentlich schluckt und darüber nachdenkt, fühlt es sich plötzlich komisch an, manchmal sogar unangenehm. Genauso ist es bei der dysfunktionalen Atmung: Sobald das natürliche Zusammenspiel aus dem Takt gerät – sei es durch Stress oder übermäßiges Nachdenken –, wird etwas Selbstverständliches zur Herausforderung. Das Bild hilft Patienten oft, den Mechanismus zu verstehen, ohne sich überfordert zu fühlen.
Das zeigt: Es gibt nicht die eine richtige Karte. Ob detailreich wie meine oder intuitiv wie die einer Patientin mit ihren Chakren, entscheidend ist, dass sie uns ans Ziel bringt. In meiner Praxis versuche ich deshalb, die Karten meiner Patienten nicht einfach zu verwerfen, sondern sie mit meiner eigenen Sicht zu verbinden.
Heilpraktiker und ihre einfache, bunte Karte: Wie Placebo den Weg weist
In der Welt der alternativen Medizin, insbesondere bei Heilpraktikern in Deutschland, zeigt sich ein weiteres spannendes Beispiel für das Konzept von Karte und Gebiet. Heilpraktiker arbeiten mit einer Karte der menschlichen Gesundheit, die aus wissenschaftlicher Sicht oft als falsch gelten muss. Ihre Ansätze – sei es Homöopathie mit unendlich verdünnten Substanzen oder Energieheilung mit unsichtbaren Feldern – widersprechen dem, was wir über die "Realität" von Krankheit und Heilung wissen. Man könnte ihre Karte mit einer bunten, einfachen Zeichnung für Kleinkinder vergleichen: voller Fantasie, aber ohne die Details und Präzision einer wissenschaftlichen Landkarte. Und doch berichten viele Patienten, dass sie sich nach solchen Behandlungen besser fühlen. Wie passt das zusammen?
Der Schlüssel liegt im Placeboeffekt. Dieser Effekt ist real: Wenn ein Patient fest an die Wirksamkeit einer Behandlung glaubt, kann sein Gehirn körperliche Veränderungen auslösen – etwa Schmerzlinderung oder Stressreduktion. Heilpraktiker sind oft Meister darin, diesen Effekt zu maximieren. Sie nehmen sich Zeit, hören zu, strahlen Zuversicht aus und bieten Rituale, die Hoffnung und Sinn vermitteln. So entsteht ein starkes Vertrauen in ihre Methoden, das bei Beschwerden wie chronischen Schmerzen oder Angstzuständen tatsächlich zu Besserung führen kann – obwohl die Karte, die sie nutzen, das tatsächliche "Gebiet" der Physiologie nicht korrekt abbildet.
Doch diese bunte Karte hat klare Grenzen. Bei schweren Erkrankungen wie Krebs kann das Festhalten an ihr fatale Folgen haben. Krebs verlangt nach präzisen, evidenzbasierten Wegen – Operation, Chemotherapie, Bestrahlung –, die auf einer genau vermessenen Karte basieren. Wer stattdessen der Heilpraktiker-Karte folgt, landet nicht nur am falschen Ort, sondern riskiert sein Leben. Hier zeigt sich, dass eine vereinfachte oder falsche Karte nicht nur unzureichend, sondern gefährlich sein kann, wenn die Realität komplexere Lösungen erfordert.
Ein historisches Beispiel unterstreicht diese Dynamik: das religiöse Verbot von Schweinefleisch. Religionen wie das Judentum oder der Islam untersagten es aus spirituellen Gründen – eine Karte, die mit Mikroben oder Hygiene nichts zu tun hatte. Doch in der Antike, als Schweinefleisch oft Krankheiten wie Trichinen übertrug, führte dieses Verbot ungewollt zu einem gesundheitlichen Vorteil. Die Karte war "falsch" im Sinne einer wissenschaftlichen Erklärung, aber sie brachte die Menschen dennoch ans Ziel: weniger Krankheit.
So ähnlich funktionieren Heilpraktiker manchmal: Ihre einfache, bunte Karte mag die Realität nicht abbilden, aber durch den Glauben ihrer Patienten kann sie dennoch Wirkung entfalten. Als Arzt sehe ich hier eine Gratwanderung: Den Placeboeffekt anzuerkennen, ist wichtig, denn er zeigt die Macht des Geistes über den Körper. Doch meine Aufgabe bleibt, Patienten zu einer Karte zu führen, die nicht nur intuitiv überzeugt, sondern auch wissenschaftlich fundiert ist – damit sie sicher und effektiv ans Ziel kommen: frei atmen, gesund leben.
Dieser Artikel wurde am 02.03.2025 erweitert